[Spoilerwarnung: Shirley Jacksons “The Haunting of Hill House”]
“Around her the trees and wild flowers, with that oddly courteous air of natural things suddenly interrupted in their pressing occupations of growing and dying, turned toward her with attention, as though, dull and imperceptive as she was, it was still necessary for them to be gentle to a creation so unfortunate as not to be rooted in the ground, forced to go from one place to another, heartbreakingly mobile.”
Es ist ein besonderer Zustand, den das Reisen mit sich bringt. Das Gefühl des Unalltäglichen auf dem Weg zum Bahnhof. Im Zug sitzend ziehen in der Morgendämmerung Hügel, Gleisbette, Dörfer und Wälder an einem vorbei. Es ist Zeit zum Tagträumen. Die Gedanken geben sich selbst mit jedem Kilometer, den man sich von zu Hause entfernt, ihren Spielereien von anderen Welten, anderen Leben hin. Welche bemerkenswerte, andersartige Begegnung wird man wohl haben? Kommt man als diejenige zurück, als die man losgefahren ist? Oder wird alles eine Enttäuschung, belanglos und ohne nennenswerte Souvenirs?
Als wir an diesem Morgen zum Flughafen aufbrechen, um nach Edinburgh zu fliegen, ziehen so die Hügel, Gleisbette, Dörfer und Wälder am Zugfenster vorbei. Ob es in diesem Waldstück wohl Rehe gibt? Und vorbei. Wie wäre es, durch dieses gleisdurchzogene Niemandsland zu stolpern? Und vorbei. Was für schön geformte Dächer! Und wieder vorbei.
Wie immer habe ich für unterwegs etwas zum Lesen mit. Wie sehr dieses Buch allerdings in diesem Reisezustand zu mir sprechen würde, hatte ich nicht erwartet. “The Haunting of Hill House” ist eine der bekanntesten Geistererzählungen unserer Zeit. Das war der ursprüngliche Grund, weshalb es auf meiner Leseliste stand - ein Spukklassiker, den ich kennen sollte, dachte ich. Doch es ist weit mehr als das. Dieses Buch wird für mich zum Reiseroman. Sicherlich lassen sich Reisen verschiedener Formen in den meisten Büchern finden: Charaktere durchleben sie im innerlichen, metaphorischen Sinne. Klar. Was hier ebenfalls zutrifft, wird aber genauso auf die tatsächliche Ebene gehoben. Unterwegssein, Straßenfolgen, Ankommen, Wegfahren sind für mich zentrale Elemente der Geschichte. Sie rahmen die Schauererzählung rund um das seltsam entrückte Haus ein wie eine sorgsam zugeschnittene Hecke.
Sternentasse to go
Doch von vorn: Shirley Jacksons “The Haunting of Hill House” erzählt vor allem die Geschichte von Eleanor, die, nachdem sie sich jahrelang um ihre pflegebedürftige Mutter gekümmert hat, den Schritt in die Unabhängigkeit wagt. Sie setzt sich dabei über ihre Schwester hinweg, nimmt das gemeinsame Auto und fährt los - einer Einladung folgend nach Hill House, einem Haus, in dem der Forscher Dr. Montague Spukphänomene untersuchen möchte. Eleanor wurde, wie andere Beteiligte auch, ausgewählt, weil jener Doktor eine besondere Empfänglichkeit für diese Phänomene in ihr vermutet.
Die abenteuerlichen Emotionen, die sie auf der Fahrt dorthin erlebt, fühlen sich fremd an. Eleanor gibt sich Träumereien hin, die sie als für sich untypisch wegzulächeln versucht. Trotzdem lassen sie ihr Herz aufgehen. Sie halten ihr einen Spiegel vor, der ein unbekanntes, aber reales Ich zeigt: “The journey itself was her positive action, her destination vague, unimagined, perhaps nonexistent. She meant to savor each turn of her traveling, [...] teasing herself with the notion that she might take it into her head to stop just anywhere and never leave again.”
Wir lernen viel über Eleanors Gedankenwelt allein schon auf der Fahrt zum eigentlichen Ort des Geschehens. Beim Lesen male ich mir aus, wie sie in ihrem kleinen Auto sitzt und ihr Inneres sich mehr und mehr Bahn bricht. Ihre Unsicherheiten blicken aus suchenden Augen hervor, ihre Aufgeregtheit trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad, ihre Verwegenheit kämpft sich aus dem Herzen nach oben in ein lächelndes Gesicht. Sie hält Ausschau nach ihrer Zukunft, während ihre Vergangenheit, eine verlorene Kindheit und das scheinbar ideale, aber ach so fremde Familienleben ihrer Schwester noch an ihr kleben.
In einer fast schon naiv-rührseligen Szene redet sie während einer Kaffeepause innerlich auf ein Mädchen ein, dass auf ihre Tasse mit Sterne auf dem inneren Boden besteht. Ihre eigene Kindheit kehrt nie mehr zurück. Die Chance auf ein ganz frisches, von anderen unverbogenes Leben ist vertan. Mit ihrer Erfahrung lässt sie das Mädchen wissen, dass sie das Ruder ihres Lebens nicht aus der Hand geben darf und dass diese Haltung auch in kleinen, scheinbar albernen Dingen beginnt: “Don’t do it, Eleanor told the little girl; insist on your cup of stars; once they have trapped you into being like everyone else you will never see your cup of stars again; [...].”
Ambivalentes Ankommen
Das Reisen lässt uns nicht nur auf Orte, sondern auch auf verborgene, vielleicht neue Gedanken stoßen. Es birgt die Chance, sich gehenden Fußes voranzureflektieren und an den frisch entdeckten Orten neue Seiten an sich selbst zu finden. Nun wird Eleanor an einen Ort gezogen, der sich einer zufriedenstellenden Beschreibung, einer umfangreichen Erfassung seines Daseins entzieht. Eine fremdartige Bedrohung, die nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen werden kann, umspielt Hill House. Eine vage, unerklärliche Urangst steigt bei seinem Anblick auf.
Ab sofort kämpft sie mit dem Sich-hingezogen-Fühlen und Davon-abgestoßen-Sein beim Anblick seiner Zimmer, Winkel und der umliegenden Hügel. Sie kämpft mit der Gegenwart der anderen Charaktere und Gegenstände, nähert sich ihnen an, um sich schließlich weiter und weiter von ihnen zu entfernen. Die Angst spielt mit ihren Sinnen: “When I am afraid, I can see perfectly the sensible, beautiful not-afraid side of the world, I can see chairs and tables and windows staying the same, not affected in the least, and I can see things like the careful woven texture of the carpet, not even moving. But when I am afraid I no longer exist in any relation to these things. I suppose because things are not afraid.” In Hill House von nicht-lebendiger Einrichtung zu sprechen, wirkt dabei irgendwie doppelt entrückt. Der Ort, an dem sie sich schließlich wiederfindet, fordert ihre Persönlichkeit und ihre Wahrnehmung heraus. Die Wirkung ist so enorm, dass sich ihre Begleiter:innen um sie sorgen und später ihre Abreise vorantreiben.
Das Shakespeare Zitat “Journeys end in lovers meeting" wird für Eleanor in diesem Haus und generell auf ihrer Reise zum Mantra. Es durchzieht Jacksons Erzählung und ist Eleanors Halt, wenn sie sich von ihren Gedanken hin und her geworfen fühlt. Wie ein Silberstreifen am düsteren Horizont flüstert es ihr zu, dass sie schon das Richtige tun wird, dass sie ein gutes Ende ihrer Reise verdient, dass diese Reise eine Erfüllung für sie bereithält, die ihr niemand nehmen kann.
Zum Paradox des Hauses gehört dabei auch, dass sich, trotz all der Kämpfe, sukzessiv eine Ruhe in Eleanor ausbreitet. Eine Ruhe, die sie glauben macht, dass sie angekommen ist, dass sie zu sich und ihrem ganz eigenen Leben gefunden hat. Die Erzählung endet, wie sie beginnt, mit Eleanor im Auto auf dem Weg an ein Ziel. Ein Ziel, von dem sie sich erhofft, das für sie richtige zu sein. Wieder hat sie das Steuer selbst in der Hand, bestimmt ihren Weg und ist erstaunt über ihre Initiative, diesen Weg auch tatsächlich zu nehmen. “I am really doing it”, wiederholt sie immer wieder für sich. Doch am Ende wirft sie den Blick noch einmal auf die anderen und gibt ihre Verantwortung für ihr Handeln an sie ab: “Why don’t they stop me?” Es ist ihr letzter Gedanke.
Jede Reise hat das Potenzial, uns zu verändern. Manche lassen uns bereichernde Qualitäten an uns entdecken, andere lassen uns auf unsere Dämonen treffen. Sicherlich, niemand schüttelt sein altes Leben vollständig ab. Da ist keine Wiedergeburt. Eleanors Blick zurück ist ihr gewohnter Blick auf die anderen. Ihre Tat bleibt ihre ureigene. Wie sie bleiben wir ambivalent. Daran wird auch das Reisen nichts ändern.
Als wir uns zum Umsteigen bereit machen, klappe ich das Buch zu und stecke es in den Rucksack. Reisen bricht auch mit unseren Erwartungshaltungen, denke ich. Eine Geistergeschichte zur Einstimmung auf eine Stadt, die selbst so viele Geistergeschichten kennt, das war meine Erwartungshaltung. Schon auf den ersten Seiten, die ich in diesem ersten Abschnitt meiner eigenen Reise gelesen habe, wurde damit gebrochen. Ich finde mich teilweise in Eleanor und ihren wilden Gedanken wieder. Ihr Entdecker:innendrang ist ansteckend. Von dem Wahnsinn, dem sie verfällt, weiß ich bis dahin noch nichts. Für mich bleibt Jacksons Figur in den kommenden Tagen wie eine Reisebegleiterin auf der Schulter sitzen, der ich ab und an zunicke, während mir der schottische Nieselregen ins Gesicht fällt.
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