In einer Welt voller Geräusche fällt Stille auf. Sie ist selten – in der Stadt, wie auf dem Land und in der seit jeher lebendigen Natur. Der Wald ist gerade im Sommer voller Leben. Der Wind spielt mit den Blättern, Vögel rufen und singen, schwarze Käferpanzer glänzen in der Sonne. Die Erde atmet Sommerluft und lässt ihre Kreaturen im Unterholz rascheln. Fehlen solche Geräusche und kleine Wuseleien, wirkt der Wald irgendwie gespenstisch.
Totenstille
Der Gespensterwald am kleinen Urlaubsörtchen Nienhagen an der Ostsee trägt seinen Namen aus anderen Gründen. Doch dort begegnete ich dieser Stille. Obwohl der Wald so nah am Meer ist: kein Rauschen der Wellen, kein Wind in den Blättern, kaum Vögel oder Rascheln im Gebüsch. Das wirkte an diesem Sommernachmittag, als ich den Ort besuchte, schon etwas unwirklich auf mich.
Die Stille kam in jenen kurzen Momenten auf, in denen einmal nicht Touristen auf ihren Fahrrädern an mir vorbei rauschten. In der Urlaubszeit mitten am Tag ist das natürlich nicht verwunderlich. Denn durch den Wald führt der Europäische Rad- und Wanderweg. Menschenlärm traf so auf konzentriertes Lauschen, ob nicht doch hier und da ein Waldgeräusch zu hören ist. Ein seltsamer Kontrast.
Bei meinem Ausflug an die Ostseeküste bin ich zunächst in die falsche Richtung gegangen. So kam ich erstmal in einem anderen Wald an, in den sich der Rad- und Wanderweg wie ein schwarzer Tunnel hineinbohrte. Schon hier fiel die Stille zwischen den vorbeidonnernden Fahrradreifen auf, die die Sinne schärft. Meine Ohren und Augen suchten regelrecht nach der Natur, die sich im tiefen dunklen Grün zu verstecken schien.
Ich liebe das urig überwucherte Unterholz und moosbewachsene, efeuüberzogene Stämme, die auch hier rechts und links des Weges zu entdecken sind. Solche Waldgewächse öffnen der Fantasie Tür und Tor und ich malte mir aus, wie unter jenem Stamm Totholz oder in jenem begrünten Erdhügel winzige scheue Gestalten hausten. So gut es ging versuchte ich diese Atmosphäre in mich aufzusaugen, auch wenn das nicht der Wald war, für den ich ursprünglich gekommen war. Nach einer Weile kehrte ich also um und machte mich auf den Weg zu meinem eigentlichen Ziel.
Weiße Riesen
Der Gespensterwald fasziniert seine Besucher*innen durch seine außergewöhnlich geformten Bäume. Wie dünne, blasse Knochen ragen sie am Rande der Steilküste empor. Die riesenhaften weißen Gestalten heben sich von einer Schwärze im tiefen Inneren ab. Wie Wächter scheinen sie auf die See hinauszublicken und die Winde zu erwarten, die ihnen ihre Form gegeben haben. Denn die blanken Stämme sind durch das besondere Klima an der Steilküste mit seiner salzigen Meeresluft entstanden.
Das Geisterhafte liegt also in der Natur begründet. Spuk lässt sich an diesem Nachmittag jedenfalls nicht ausmachen. Sollten hier doch Geister zu Hause sein, dann verstecken sie sich möglicherweise wohlweislich vor den lärmenden Gestalten in Trainingsjacken, die auf ihren Gefährten den Wald unsicher machen.
Vielleicht statte ich dem Wald nochmal einen Besuch ab, dann aber im Herbst. Bestimmt bietet er dann nochmal eine ganz andere Atmosphäre, wenn in der Dämmerung Nebelschwaden durch das nackte Gehölz ziehen. Zumindest stelle ich es mir so nochmal um einiges magischer vor. Faszinierend bleibt dieser Ort aber das ganze Jahr über. Die weißen Riesen mit ihren grotesk gebogenen Kronen regen die Fantasie an und bieten auch ganz ohne Spuk ein wunderbares Naturschauspiel.
Wegweiser
Von Rostock aus habe ich etwa eine Stunde mit Bus und Bahn nach Nienhagen gebraucht. Von der Bushaltestelle "Nienhagen (Meckl) Mitte" (Name der Haltestelle in der Bahn-App) könnt ihr dann nach einmal abbiegen immer geradeaus bis zum Strand laufen. Dort geht ihr dann links und kommt nach wenigen Minuten im Gespensterwald an. Zum anderen Küstenwald ginge es am Strand rechts entlang.
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