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Leben zu Besuch

Palermo

Kapuzinergruft von Santa Maria della Pace

Unser Körper ist unsere innigste Heimat. Nichts ist uns näher. Mit ihm fühlen wir, denken wir. Er gibt uns unsere Sinne, mit denen wir uns untereinander erkennen und miteinander verbinden. Schließen wir die Augen ein letztes Mal, atmen ein letztes Mal aus, sprechen vielleicht unser letztes Wort, enden vermeintlich diese Verbindungen. Was dann von ihm übrig ist, wird schnell verschwinden; meist verbrannt, vergraben. Was bleibt, sind Gedanken bei anderen, Erinnerungen, vielleicht Fragen, die wir nicht mehr beantworten können. Ob anderswo etwas weiterlebt, können wir nicht sicher wissen. Unser Körper ist nun Teil der großen Dunkelheit. Er erkennt nicht, kommuniziert nicht, spricht nicht. Doch manche Körper wollen auch nach dem Sterben gesehen werden, wollen bleiben und auf ihre Art sprechen. Die Gruft des Kapuzinerklosters in Palermo ist ein Ort, an dem man sie treffen kann.

Die Menschen, die in der Gruft der Kapuziner den ewigen Schlaf finden, sind nicht allein. Da ist keine Einsamkeit im abgeschlossenen Grab, keine Schwärze tief unter der Erde. Während sie auf eine ewige Erlösung warten, empfangen sie das Leben - früher Angehörige, heute interessierte Gäste. An einem diesigen Vormittag haben auch wir uns auf den Weg gemacht, die Toten zu besuchen. Noch immer werden sie von den Mönchen des Klosters betreut, die geschäftig uns und zahlreiche andere nach und nach einlassen.

Wir gehen einige Stufen hinab und finden uns in Gängen voller Menschen wieder, auf den Stegen gehend, an den Wänden stehend, in Nischen liegend. Die Gastgeber:innen blicken links und rechts auf ihre Besucher:innen oder ruhen auf ihren Lagern gebettet. In manchen Gängen sehen sie sogar die Sonne, die durch die schmalen Fenster dringt, Tag für Tag auf- und untergehen. Dazwischen tummeln sich Männer und Frauen, Alte wie Junge, Familien, Kinder. Das Leben bewegt sich neugierig und andächtig durch die Gänge. Es möchte dem Tod begegnen.

Die Mumien von Palermo sehen das Leben kommen und gehen. Sie wurden an Feiertagen besucht und neu eingekleidet, ihnen werden Gebete zu teil. Zurück geben sie den Besucher:innen vor allem Gewissheit, dass wir, zumindest in dem, was wir als Leben kennen, nicht ewig Zeit haben. Sie laden zum stummen Dialog ein; einem Dialog zwischen Menschen, die zwar von Jahrhunderten getrennt, aber so verschieden dann doch nicht sind. An diesem Ort wird die Zeit überwunden - für Begegnungen von Angesicht zu Angesicht.

Über 300 Jahre lang, von 1599 bis 1920, wurden hier Menschen nach ihrem Tod mumifiziert. Die Plätze mit Aussicht auf ein Stück Ewigkeit waren begehrt bei den Mönchen und später auch bei allen anderen Gläubigen, die es sich leisten konnten. Was mit dem Klosterbruder Silvestro da Gubbio begann, endete mit einer der “schönsten Mumien der Welt”: Rosalia Lombardo starb im Alter von zwei Jahren und sollte, wie so viele andere Frauen, Männer und Kinder in dieser Gruft, für ihre Angehörigen und die Ewigkeit erhalten bleiben. Das Leben schleicht mit gebührendem Abstand an dem kleinen, verglasten Kindersarg vorbei, als wollte es das Mädchen nicht aufwecken. Seelenruhig versinkt ihr Kindsgesicht in den weichen Kissen. Rosalia ist eher für sich. Wie einer Prinzessin wird ihr mehr Raum gegeben, als den anderen, die ihre Nischen in den Gängen bewohnen. Das Leben staunt. Es sieht nicht den Tod, sondern ein Mädchen. Als wir an Rosalia vorbei sind, auf dem Weg zurück an die Oberfläche kommt uns das Leben entgegen. Ein Vater nimmt seine junge Tochter auf den Arm. Sie ist kaum älter als Rosalia. An diesem Ort begegnen sich die beiden.


 

Quellen und Lesetipps

Allen die sich gern tiefgreifender mit der Kapuzinergruft, den Mumien und der kulturhistorischen Bedeutung dieses Ortes beschäftigen möchten, kann ich noch folgende Empfehlungen mitgeben:


Webseite der Kapuzinergruft Santa Maria della Pace, Palermo (italienisch, englisch)

Benecke, Mark: Mumien in Palermo - Als Kriminalbiologe an den dunkelsten Orten der Welt, Bastei Lübbe, 2016


Gemeinsam mit dem Archäologen Jörg Scheidt und seiner Kollegin Kristina Baumjohann hat Kriminalbiologe Mark Benecke die Mumien der Kapuzinergruft wissenschaftlich untersucht. In diesem Buch beschreibt er unter anderem diese Forschungsreise. Er gibt Einblicke in die Arbeit vor Ort und die Mumifizierungsprozesse. Im Interview mit Jörg Scheidt wird deutlich, wie bedeutsam dieser Ort für die archäologische Forschung ist.

Koudounaris, Paul: The Empire of Death - A Cultural History of Ossuaries and Charnel Houses, Thames & Hudson, 2011


Kunsthistoriker und Fotograf Paul Koudounaris ist Experte für Beinhäuser. Für dieses mit eindrucksvollen Fotos illustrierte Buch hat er über siebzig Orte weltweit besucht. Er nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise in die Geschichte dieser besonderen Stätten und in die religiösen Lebenswelten, die ihnen zugrunde liegen. Unter anderem hat er auch die Kapuzinergruft von Palermo besucht.


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